Er kannte sie alle, die alten und jungen, die dusseligen und die spannenden. Und er hatte die meisten auch tatsächlich gelesen. Das unterschied den Autor Henner Kotte von so manchem Jung-Autor heute. Er kannte die Literatur und er liebte sie. Man konnte mit ihm über die unterschiedlichen Darstellungen des Poirot ebenso reden wie über die – für ihre Zeit – mutigen Darstellungen der Frau bei der Thüringer Autorin Marlitt. Von Krimi bis Hochromantik alle dabei. Und wehe, einer ging respektlos mit dem Hinrichtungsplatz des historischen Woyzeck um! Da wurde er deutlich und forderte energisch Respekt ein. Das war nicht eben etwas für zarte Seelen. Henner Kotte benannte das, was er für falsch hielt, stritt sich erbittert – und fühlte sich, so sagte er mir einmal, in diesen Momenten herrlich lebendig. Manche Bekanntschaft ist daran zerbrochen. Manche hat aber gerade aus dieser gradlinigen Ehrlichkeit ihren besonderen Wert entwickelt. Doof war doof und gut war gut. Und das hat er gesagt. Genau so. Klar.

So intensiv wie er stritt, so tief war seine Loyalität zu denen, mit denen er gut konnte. Für die trat er ein, stellte Vernetzungen her, schrieb Rezensionen. Darauf konnte man sich verlassen. Auch ich habe mich darauf verlassen – und bin nie enttäuscht worden.

Mit dem Beginn seiner eigenen schweren Erkrankung erhielt neben dem Streitbaren eine andere Seite in ihm Raum. Er, der sich in Archive vergraben und in Recherchen verbeißen konnte, ein Bär von einem Mann, wurde plötzlich mit dem Schmerz und der Schwäche konfrontiert. Und wie es ihm entsprach: intensiv und brutal. Und er entschied sich für das Leben. Jammern war nicht seine Sache. Das Leben auskosten und verkosten in allen Versionen, das reizte ihn. Das hat er gelebt – auch in der Einschränkung und mit nur noch wenig Lungenvolumen.

Diese Seite, die Kraft gewann, hat auch uns verbunden. Als ich selbst vor einer schwierigen Diagnose stand, schrieb er mir: „Du musst jetzt da durch. Daran geht nichts vorbei. Aber ich halte deine Hand.“ Es war das richtige Wort zur richtigen Zeit. Zu diesen Worten hatte er den Mut. Das ist selten geworden. Wir sind nicht nur leidungewohnt, wir sind auch zumeist zu feige, die Worte zu sagen, die dran sind.

Eine solche Feigheit kannte Henner Kotte nicht. Was zu sagen war, musste gesagt werden. Das konnte – beispielsweise bei Schullesungen – durchaus zu Verwirrung und Irritation führen. Aber selbst die frechsten Schüler wurden brav, wenn er die Stimme erhob.

Der Tod hielt sich schon lange in der Nähe auf. Man hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Nun ist er hervorgetreten und sagte: Komm. Zukunft? Kein Glaube an Gott oder Auferstehung. Und doch: Vielleicht eine Wiederkehr im Gänseblümchen sagte er einmal zu mir. Vielleicht.

Quelle: kippe-leipzig.de

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